Grenzen des Timoshenko-Balkens - FE-Berechnung von Wellen

Die Berechnungsansätze der FVA‑Workbench basieren auf analytischen Methoden, die seit Jahrzehnten in der Antriebstechnik etabliert sind und durch unzählige Forschungsvorhaben der FVA validiert wurden. Der Vorteil dieser Lösungen besteht in der hohen Berechnungsperformance bei gleich­zeitig sehr guter Ergebnisgüte.            
Es lassen sich allerdings nicht alle Körper ausreichend genau analytisch beschreiben. Insbesondere Gehäuse, Planetenträger, Radkörper und Wellen werden daher über einen Finite Element Ansatz in der FVA-Workbench berücksichtigt. Der FE-Ansatz bietet sich grundsätzlich für komplexe Bauteilgeometrien an, die nicht mehr im Gültigkeitsbereich der analytischen Ansätze abgebildet werden können (Bild 1). Im Folgenden wird dieser Unterschied, am Beispiel der FVA-Workbench Wellenberechnung mittels des FE-Ansatzes, erläutert.

Berechnung der Wellenverformung

Die Berechnung der Wellenverformung erfolgt in der FVA-Workbench mit Hilfe des Ansatzes nach Timoshenko. In diesem Ansatz wird die Biegeverformung nach der Methode von Euler/Bernoulli mit der Berücksichtigung der Schubverformung kombiniert. Folgende Einschränkungen bleiben bei Verwendung des Timoshenko-Ansatzes bestehen:

  • Die Querschnittsfläche des Bauteils verwölbt sich nicht.
  • Es werden nur rotationsymmetrische Bauteile berechnet (Voll- und Hohlwellen).
  • Konische oder gewölbte Konturverläufe werden durch gestufte Zylinderabschnitte ersetzt.
  • Kräfte und Momente werden punktförmig an der Mittelachse eingebracht.
  • Der Kraftfluss in gestuften Wellen wird nicht korrekt berücksichtigt.

Diese Einschränkungen führen bei der Mehrzahl von üblichen Wellengeometrien zu keinen praxisrelevanten Abweichungen gegenüber der realen Wellenverformung. Falls jedoch komplexere Geometrien zum Einsatz kommen oder wenn geprüft werden soll, ob die Einschränkungen des Timoshenko-Balkens bei einer Wellengeometrie doch zu merklichen Abweichungen führen, lassen sich in der FVA-Workbench Wellenverformungen auch mittels FEM berechnen. Hierzu können die in der FVA-Workbench aufgebauten Wellen intern vernetzt werden.

Bei komplexeren Geometrien lassen sich aus CAD-Programmen exportierte Wellen einlesen und vernetzen. Die Vernetzung und die Ermittlung der Kontaktknoten mit dem restlichen Getriebemodell erfolgt weitgehend automatisch. Die Nutzerführung wurde auf maximale Effizienz ausgelegt, sodass eine FE-Welle innerhalb kürzester Zeit modelliert, vernetzt, und berechnet werden kann. Bei der internen Vernetzung können sowohl lineare als auch quadratische Tetraeder-Elemente für das Netz verwendet werden. Mit wenigen Klicks kann jeder Nutzer auch ohne spezielle FE-Kenntnisse ein vollwertiges Netz für eine FE-Rechnung erstellen. Diese automatisierte Vernetzung ist möglich, da die hier durchgeführte Verformungsanalyse an die Netzfeinheit deutlich geringere Ansprüche stellt, als eine Spannungsanalyse.

Berechnungsbeispiel: Vergleich Timoshenko-Balken – FE-Methode

Im Folgenden soll der Unterschied zwischen der FE-Berechnung und der Berechnung nach Timoshenko am Beispiel einer abgestuften Welle erläutert werden. Die Vergleichsrechnung wurde an einer vereinfachten Wellengeometrie (Bild 2) durchgeführt. Die Welle ist zweifach gelagert und mittig mit einer Einzelkraft belastet.

Der Außendurchmesser des mittleren Wellenabschnitts wird für die Vergleichsrechnungen verändert. Es werden die Verhältnisse im Bereich zwischen 1 (glatte Welle) und 3,5 (sehr starker Absatz) variiert. Der Grunddurchmesser der Welle beträgt 50 mm

Um die Steifigkeit der FE-Elemente mit den analytischen Ansätzen zu koppeln, werden die Steifigkeiten auf die Koppelpunkte reduziert. Im Fall der Welle sind die Koppelpunkte Lagerstellen, Verzahnungen, Lastangriffspunkte oder Koppelungen. In der Reduktion wird eine Steifigkeitsmatrix für die Koppelpunkte bestimmt, die das Verformungsverhalten an den Koppelstellen genauso beschreibt, wie die vollständige Betrachtung des gesamten FE-Bauteils. In der Berechnung sind daher nur die Koppelpunkte sichtbar.

In einem Postprocessing-Schritt können über die Belastungen auf den Koppelpunkten die Deformationen des gesamten Bauteils berechnet werden. Dieses Vorgehen erlaubt eine äußerst performante Berechnung unter Einfluss aller Deformationen im Getriebe. Die Einflüsse auf die Verzahnung sind beispielhaft im Forschungsvorhaben FVA 592 II experimentell nachgewiesen.

In Bild 3 ist die maximale Wellendurchsenkung über dem Verhältnis des Außendurchmessers des mittleren Segments relativ zum Durchmesser der angrenzenden Wellenabschnitte dargestellt.

 

Es ist zu erkennen, dass für eine glatte Welle der analytische Ansatz das gleiche Ergebnis wie die FE-Berechnung liefert.
Ab einer Durchmesservergrößerung um das 1,25-fache berechnet die analytische Lösung für diese Wellengeometrie eine geringere Durchsenkung als die FE-Berechnung. Ab der
3-fachen Durchmesservergrößerung des mittleren Abschnitts ergibt sich für die FE-Berechnung eine konstant um 23% geringere Durchsenkung als bei dem analytischen Ansatz.

Der Unterschied ist in diesem Fall auf zwei Ursachen zurückzuführen. Er liegt zum einen am ungleichmäßig über den Querschnitt verteilten Kraftfluss, zum anderen aber an der Verwölbung des Wellenquerschnitts im Bereich der Durchmesserstufe (Bild 4). Wie oben beschrieben werden diese beiden Effekte im analytischen Ansatz nach Timoshenko nicht berücksichtigt.

Die geschilderten Unterschiede in der Berechnungsmethodik der Wellendurchbiegungen lassen sich auch in praxisnahen Getriebemodellen, wie in dem in Bild 5 dargestellten Kegel-Stirnradgetriebe, feststellen.

Hier wurde für die Zwischenwelle die Breitenlastverteilung der Abtriebsstufe zunächst für die folgende Varianten durchgeführt: 

  • Analytische Berechnung aller Wellen
  • FE-Berechnung der Zwischenwelle, restliche Wellen wurden analytisch berechnet

Bild 6 zeigt die Breitenlastverteilung für beide berechneten Varianten. Obwohl hier der Einfluss auf die Wellendurchbiegung nicht so stark ist wie bei dem theoretischen Beispiel in Bild 2, ist dennoch, durch die Berechnung der Zwischenwelle mit FE, eine merkliche Erhöhung des Breitenfaktors K von 1,22 auf 1,27 festzustellen.

Realitätsgetreue Darstellung von Wellen

Gleichzeitig mit der Implementation der FE-Berechnung von Wellen wurde die grafische Darstellung der Wellen im 3D-Modell wesentlich verbessert. In der FVA-Workbench wird die detaillierte Geometrie von Kerbstellen wie z.B. Passfedern, Wellenabsätze mit Freistich und Rechtecknuten im 3D-Modell realitätsgetreu dargestellt, sodass der Benutzer eine grafische Rückmeldung über die getätigten Geometrieeingaben erhält (Bild 7). Diese Erweiterungen wurden auch im Hinblick auf die Implementierung der FKM-Richtline zur Berechnung der Wellensicherheiten durchgeführt, die die aktuelle Wellensicherheitsberechnung nach DIN 743 ergänzt.